Der Titel „Sentiment“ spielt zum einen auf die Titelwelt der Clavecinisten an. Oft ist dort „zärtliches“ Spiel verlangt, oft beschwören ihre Titel Seelenregungen oder antike Bilder herauf. Zum anderen bezieht sich der Titel auf zwei Stücke der lettischen Komponistin Anita Mieze, die in Basel lebt und lehrt. Ihre Stücke „Sentiment I“ und „II“ sowie „Ansichtskarte“ ergänzen ein Programm aus Stücken des clavecinistischen Hochadels, vielleicht bewusst unter Ausschluss des dominierenden François Couperin. Eine solche Gegenüberstellung ist an sich nichts Neues, auch wenn sie hier mit großem Takt geschieht. Auch so guten Instrumenten wie den Kopien nach Blanchet und Ruckers begegnet man inzwischen glücklicherweise häufig; und auch dabei gilt das kleine Extra, dass ihr farbiges Klangbild besonders klar und charakteristisch eingefangen ist. Und schließlich bietet Alexandra Ivanova ein großes Spektrum an Ausdrucksmitteln auf, das den suggestiven Gehalt der Stücke vertie und immer rhythmischen Fluss und Eleganz wahrt – womit sie mit einer Liga ausgezeichneter Cembalistinnen und Cembalisten gleichzieht. Als besonders geglückt erscheint dieses Album aber darin, dass es einen großen Reichtum an Tonfällen entfaltet, zwischen Duphlys düsterer „Médée“ und dem he ig bewegten „Vertigo“ von Royer, den „Muses“ von Rameau und den „Grâces“ von Duphly, zwischen dessen festlicher Chaconne und jener in F-Dur von Louis Couperin, der Ivanova ein tatsächlich „zärtliches“ Innehalten mitgibt. Mit den Stücken Anita Miezes gelingt es ihr, dem Hörer das Ohr für das ereignishafte Anreißen der Saite zu öffnen und es so als Ausgangspunkt jedes der Stücke zu vermitteln, ob klassisch oder neu – und in der Gegenüberstellung legt sie die alten Stücke jedesmal als die radikaleren frei, voller wuchtiger Sinnlichkeit.
Friedrich Sprondel (Fono Forum, April 2021)
Musik des französischen Barocks und zeitgenössische Musik für Cembalo vereint Alexandra Ivanova auf ihrem CD-Debüt als Solistin in einem faszinierenden Brückenschlag über die Jahrhunderte: Neben drei bedeutenden Cembalomeistern der französischen Musik des 17. und 18. Jahrhunderts (Louis Couperin, Pancrace Royer und Jacques Duphly) erklingen Werke der 1980 geborenen lettischen Komponistin Anita Mieze – ihr Name ist übrigens nicht wie die deutsche Miezekatze auszusprechen, sondern mit einem „e“ nach dem „i“ und stimmhaftem „s“ in der Mitte, also etwa „Miësä“. Wenn auch nicht ausdrücklich für diese CD entstanden, wurden Miezes Cembalostücke durch Ivanovas französisches Programm inspiriert und sind der Cembalistin gewidmet.
Sicheres Gefühl für die musikalische Idomatik Alexandra Ivanova hat für dieses Programm zwei vorzügliche Kopien barocker Cembali ausgesucht: Die Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts erklingt auf einem Cembalo, das Joel Katzmann 2003 nach einem 1638 gebauten Instrument von J. Ruckers fertigte; die Stücke von Anita Mieze werden auf einem 2013 von Titus Crijnen gebauten Instrument gespielt, das Vorbildern des französischen Cembalobauers Blanchet folgt und im Unterschied zu dem Rucker-Katzmann-Cembalo über den für die Komposition „Ansichtskarte“ benötigten Lautenzug verfügt. Die auf dieser CD erklingenden französischen Stücke umfassen einen Zeitraum vom Grand Siècle Ludwigs XIV. bis zum Vorabend der französischen Revolution – und damit von Louis Couperin (1626-1661) über Jean-Philippe Rameau (1683-1764), Pancrace Royer (ca. 1705-1755) bis hin zu Jacques Duphly (1715-1789).
Bewundernswertes Einfühlungsvermögen und ebensolche Klarsicht in die Entwicklung der musikalischen Idiomatik in anderthalb Jahrhunderten französischer Claviermusik zeichnen Alexandra Ivanovas Interpretationen aus: Gemessene Würde bei Louis Couperin; Eleganz und großartige Variationskunst bei Jean-Philippe Rameau; die virtuose Kunst Pancrace Royers, musikalische Extreme auf die Spitze zu treiben und hierin in gewisser Weise den deutschen Sturm und Drang auf französische Weise vorwegzunehmen; und schließlich die auf den Traditionen der französischen Cembalomusik fußende Kunst von Jacques Duphly, der außerdem noch durch die ganz anders gearteten Musik Domenico Scarlattis beeinflusst ist und die Vollendung der Epoche der Clavecinisten im Rokoko darstellt. Wer einen genauen Eindruck von Alexandra Ivanovas Meisterschaft als Interpretin erhalten möchte, höre sich direkt hintereinander die Chaconnen Louis Couperins und Jacques Duphlys an und lasse sich so die stilistische Entwicklung der französischen Cembalomusik im Verlauf mehrerer Generationen eindrücklich vorführen.
Verbindung zum 20. Jahrhundert Der Sprung ins 20. Jahrhundert ist deutlich, doch keinesfalls schockierend: Anita Miezes Stücke entsanden, wie die Komponistin selbst einräumt, vom barocken Programm dieser CD inspiriert. Die beiden Stücke Sentiment I und II paraphrasieren deutlich den Charakter der barocken Suite im Geist zeitgenössischer Musik. „Ansichtskarte“, als erste Begegnung von Anita Mieze mit dem Cembalo geschrieben, zeigt eine lustvolle Ausleuchtung der klanglichen Ausdrucksmöglichkeiten des für die Komponistin neuen Instruments, das bisher in ihrem Schaffenshorizont nicht vertreten gewesen war. Einen besonderen Ehrenplatz bei der fälligen Höchstbenotung dieser CD darf der Cembalist Pieter-Jan Belder beanspruchen, der die Stimmung der Cembali betreute und besonders für das französische Repertoire außerordentliches leistete: Waren für Louis Couperins Stücke mitteltönige Stimmung selbstverständlich, erhielt danach jeder Komponist eine seiner Stellung im Zeitraum der Musikgeschichte eigene Stimmung. Ein wichtiger Beitrag, dass die Stücke des französischen Programms jedes für – auch was die Stimmung angeht – überaus authentisch klingen. Für Anita Miezes Kompositionen haben sich Belder, die Komponistin und die Solistin für eine gleichschwebende Stimmung entschieden.
Fazit: Eine außerordentliches Debüt einer Cembalistin, die in ihrer ersten Einspielung einen Spagat über die Zeitalter wagt, indem sie die Distanz von 150 Jahren überzeugend und mit Leichtigkeit überwindet und darüber hinaus noch eine Brücke in die direkte Gegenwart schlägt. Man darf mit Spannung auf künftige Einspielungen von Alexandra Ivanova warten!
Detmar Huchting [26.05.2021]
This debut recording showcases late French baroque keyboard music by Jean-Philippe Rameau, Jacques Duphly and Pancrace Royer; these are bookended with pieces by Louis Couperin and interspersed with three by the contemporary Latvian composer Anita Mieze. The Russian-born Ivanova displays an excellent feel for French styles, whether the ‘classical’ Couperin, or the more flamboyant Royer and Duphly. She has the necessary exuberance and virtuosity for Duphly’s Médée or Royer’s Tambourines but is equally impressive on the more meditative side of those composers’ work. Her inégales playing is very flexible and gives her performances a strong improvisatory feeling, as if the music was being composed as she goes along. Indeed, she prefaces Rameau’s Gavotte et six doubles with her own-composed short Prélude non mesuré. That track is particularly successful, building the sonority and excitement very well through the variations. In the more exuberant pieces, she occasionally gets a bit carried away by the excitement and rushes slightly ahead of the acoustics but, in general, these are fine performances which provide an excellent introduction to the broad sweep of French baroque music.
I was less convinced by the Mieze pieces which, despite the composer’s stated intention, only really exploit the harpsichord’s possibilities in one piece, Ansichtskarte. The other two seem rather aimless and none relate well to the structured feel of the rest of the programme. Ivanova plays the baroque music on a Joel Katzmann copy of a 1638 Ruckers, presumably with ravalement. For the contemporary pieces she uses a Blanchet copy by Titus Crijnen. It would have been interesting to have heard some of the late French pieces on the latter instrument. Both are expertly recorded here, particularly the Katzmann which has both good clarity and acoustic depth. This contributes to the success of the final track here, Louis Couperin’s Tombeau de Mr. de Blancrocher which I particularly enjoyed.
Noel O’Regan [20.08.2021]